Diego Maradona hat im Offensivfußball alle bisherigen Maßstäbe pulverisiert, andererseits wegen vieler Vorfälle auch die Menschen polarisiert. Folgende Persönlichkeiten des Wiener Sport-Club lassen Sternstunden des am 25.11. verstorbenen argentinischen Fußballgenies Revue passieren:
Willy Kaipel, Top-Torhüter in den 1970er Jahren und erfolgreicher Trainer, ist der Grandseigneur in unserer Runde. Als Zeitzeuge hat er viele Partien Maradonas via TV-Direktübertragungen gesehen. Bei Diegos drei Treffern (5:1 gegen Österreich) im Praterstadion war er leider nicht dabei.
Florian „Prögi“ Prögelhof, Jahrgang 1994, für viele der aktuell beste Keeper der RLO, hat sein Wissen aus dem Internet (Youtube) und verschiedenen Sportzeitschriften.
Philip Dimov, „El capitan“, Jahrgang 1990, hat schon früher einiges via Videos bzw. soziale Netzwerke erfahren. Dokumentationen nach seinem Tod haben Maradona auch in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Andrej „Todo“ Todoroski ist als Jahrgang 1999 der Jüngste der Runde. Während seiner Jugend in Nordmazedonien sprach man in seiner Familie viel über Fußball, dabei war auch Maradona ein Thema; das Video über die „Hand Gottes“ hat ihn fasziniert, so dass er sich auch andere Szenen im Netzt suchte.
Valentin Tiscornia, Video-Analytiker beim Sport-Club, ist gebürtiger Argentinier und erlebte als 6jähriger die WM 1990; die Szenen davon und jene von 1986 waren auch im TV ständig präsent und fachten sein Interesse an.
22.6.1986, Argentinien gegen England, 51. Minute, „die Hand Gottes“
Willy Kaipel sieht die Rolle Peter Shiltons dabei so: „Dem 125fachen englischen Teamgoalie kann man am 0:1 keine Schuld geben, denn er konnte nicht mit einem Handspiel rechnen. Im Normalfall hätte er, 20 cm größer als Maradona, noch dazu mit Hand oder Faust, den Ball sicher abgewehrt. Er entsprach nicht dem Klischee eines englischen Tormannes, der im 16er aufräumte, sondern stand für feine Klinge.“ Auffallend ist, dass Shilton als Einziger nach Diegos Tod kein Loblied anstimmte, sondern bedauerte, dass er sich nie für den Betrug entschuldigt hatte.
Ins selbe Horn stößt Kaipels Torhüter-Kollege Prögelhof: „Beim ersten Tor wäre Peter Shilton an den Ball gekommen, wenn Maradona nicht die „Hand Gottes“ zur Hilfe genommen hätte. Es war nicht ganz legal erzielt und ist vielleicht gerade deshalb den Fans in Erinnerung geblieben und bagatellisiert worden.“ Ähnlich sieht es auch Philip Dimov: „Es war ein Handspiel und hätte nicht zählen dürfen.“
22.6.1986, Argentinien gegen England, 55. Minute, „Tor des Jahrhunderts“
„Prögi“ Prögelhof: „Das war ein unglaubliches Tor nach einem fast 60 Meter langen Dribbling, deshalb wurde es nicht umsonst zum „WM-Tor des Jahrhunderts“ gewählt. Den Tormann trifft die geringste Schuld; eventuell hat er sich zu früh für den 1:1 Block entschieden und konnte dadurch nicht mehr entscheidend eingreifen.“ Philip Dimov nimmt die Verteidiger unter die Lupe: „Man kann die defensive Abteilung im Nachhinein natürlich wegen Stellungsfehler oder nicht idealem Zweikampfverhalten kritisieren. Aber das Tempo, die Ballführung, die technische Klasse und Denkweise von Maradona waren meiner Meinung ausschlaggebend für das Tor des Jahrhunderts. „Todo“ Todoroski wertet es als ein absolutes Weltklassetor, noch dazu mit unglaublicher Lockerheit erzielt. „Er hat dann auch noch den Tormann umspielt, weil es leichter war, den Ball mit dem rechten Fuß ins Tor zu schieben als mit rechts vorher zu schießen.“
Valentin erzählt dazu die folgende Anekdote: „Stürmer Valdano ging nach dem Spiel auf Maradona zu, um ihm zum Tor zu gratulieren, und Diego entschuldigte sich augenblicklich bei ihm, dass er ihm den Ball nicht zuspielen hatte können, obwohl er während seines Laufs versucht hatte, eine Lücke für den Pass zu finden. Valdano war von der Anzahl der Ideen( manche verfolgt, manche verworfen), die durch Maradonas Kopf gehen mussten, sehr überrascht, begriff aber rasch, dass so nur das Gehirn eines genialen Fußballspielers funktioniert.“
Maradona: weltweit bester Offensivspieler, obwohl er nur 1,65 groß war
„ Prögi“ Prögelhof ist überzeugt, dass er „durch seine sehr stark ausgeprägte Physis, Dynamik und Geschmeidigkeit dieses Manko mehr als nur kompensiert hat. Wegen seines tiefen Körperschwerpunkts konnte er von seinen Gegenspielern beim Dribbling nur sehr schwer vom Ball getrennt werden.“
Willy Kaipel bewundert das „Gesamtkunstwerk“ Maradona: „Er verfügte in allen wesentlichen Bereichen über herausragende Qualitäten: Er war mental enorm stark, war stets hoch motiviert, spielte vorausschauend, traf andererseits blitzschnell seine Entscheidungen – fast immer die richtigen. Während des Spiels ging er ein immens hohes Tempo und war äußerst wendig. Er hatte alle Freiheiten, Defensivaufgaben waren für einen echten 10er damals keine Vorgabe.“
„Dodo“ Todoroski versucht selbst in hohem Tempo mit seinem starken linken Fuß das gegnerische Zentrum zu knacken. „Man konnte und kann von den Legenden immer etwas lernen. Seine Tempodribblings sind eine Augenweide.“ Die Nummer 10 ist ein Symbol; derzeit ist er mit der Nummer 14 zu sehen, sein Ehrgeiz ist es, einmal die berühmte Nummer auf seinem Rücken zu tragen.
Diegos hohe Trefferquote
Valentin, der Statistiker: Obwohl er kein Stürmer war, erzielte er 346 Tore (0,5 Tore/Spiel). Er hatte dafür viele Ressourcen, unter anderem waren bei ihm das Gefühl für den Ball, das Raum-Zeit-Gefühl und das periphere Sehen überragend ausgeprägt. Dadurch konnte er mehrere Phasen des Spiels, inklusive Abschluss, kontrollieren.
Er war außerdem aggressiv, direkt, selbstbewusst und kreativ. Natürlich verfügte er auch über eine großartige Schusstechnik (59 Tore durch Freistöße!)
Willy Kaipel hat ihm genau auf die Füße geschaut: „Maradona verfügte über eine perfekte Schusstechnik und hatte viele Lösungen für den Abschluss parat – egal, ob aus dem Spiel heraus, bei Elfmetern oder bei Freistößen; er stimmte als reiner Linker auch vorausschauend seine Laufwege auf einen möglichen Torschuss ab.“ „Prögi“ Prögelhof imponiert das perfekte Zusammenspiel zwischen Kopf und Fuß: „Solche Weltklassespieler verfügen über eine enorm hohe Spielintelligenz und treffen somit fast immer die richtigen Entscheidungen vor dem Tor.“
Arme Defensive: Wie sollte man Diego neutralisieren???
Philip Dimov verweist auf eine berühmte Nummer 10 der Gegenwart: „Ich möchte einen Vergleich mit Messi ziehen. In unserer modernen Zeit, wo Analysen und Beobachtungen leichter und zugänglicher sind als je zuvor, schaffen es selbst die besten defensiv eingestellten Mannschaften der Welt nicht, Messi zu neutralisieren. Ähnlich muss man die unglaubliche individuelle Qualität von Maradona zur Kenntnis nehmen und nicht die Defensivspieler in die Kritik nehmen. Die Attacken waren zu Zeiten Maradona auch noch wesentlich brutaler als heute. Ich weiß nicht, wie z.B. Messi mit dieser Härte umgehen würde!“
Valentin analysiert diese Thematik anhand der WM-Spiels gegen England 1986: „Seine Performance war jenseits von jeder Vorstellung und Taktik; so konnte ihn beim 2:0 nichts und niemand aufhalten. Die englische Verteidigung betrieb generell strikte Deckung, indem sie mit sofortigem Druck reagierte, wenn er den Ball erhielt, und im Verband verteidigte, wenn er zum Tor orientiert war –zusätzlich mit 7 Fouls. Bei den äußeren Umständen – hohe Sommertemperaturen, 12 Uhr mittags und 2250 m über dem Meeresspiegel – war es schwierig, die Intensität aufrecht zu erhalten.
Maradona – Individualist oder Teamplayer?
Laut Valentin kritisierte Maradona nie einen Mitspieler, weil dieser nicht auf seinem Niveau war, und er verstand immer die Bedeutung des Teams, um zu gewinnen. Diese Führungsqualität, seine große Motivationsfähigkeit und sein Ehrgeiz trieben auch alle anderen, inklusive Trainerstab, zu Höchstleistungen. Es war notwendig, den anderen Spielern ihre Rolle und ihre Wichtigkeit im Team klar zu machen. Ein Spieler auf seinem Niveau ist die Hauptwaffe, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. In manchen Spielen oder Situationen kann er der Schlüssel zum Erfolg sein, in anderen kann er indirekt seinen Mitspielern zu Ruhm verhelfen. Deshalb mussten alle ihre Rolle verstehen!
Hommage an Diego
Philip Dimov über das Phänomen Diego: Für weite Teile der Welt ist Fußball so viel mehr als nur Sport. Maradona hat vielen Menschen das Gefühl gegeben, einer von ihnen zu sein, und hat jedes Spiel seinen Fans gewidmet. Was er für sein Land und den SSC Neapel erreicht hat, sollte für immer in Ehren gehalten werden. Trotzdem glaube ich, dass ein Teil der Hysterie weniger Patriotismus, sondern viel mehr die Huldigung an ein Fußballgenie ist.
Willy Kaipel über die fast religiöse Verehrung in Argentinien und Neapel nach der Todesnachricht: „Er hat Argentinien nicht nur sehr viele positive Momente geschenkt, sondern regelrechte Glücksgefühle beschert. Er war ein Idol, das dem durch den Falkland-Krieg gebeutelten Land den Stolz zurückgab. Dadurch wurde er zu einem Nationalhelden. Napoli wurde mit ihm bzw. durch ihn vor den reichen Klubs aus dem Norden (Mailand, Turin) erstmals Meister. Bei diesen Erfolgen werden einem Fehler verziehen, auch wenn sie noch so schwer sind.
Valentin über Reaktion auf die Todesnachricht in Buenos Aires: „Jeder schweigt in der Straße, es ist, als ob alle denselben Verwandten verloren hätten“.
Er hatte eine aufrichtige Liebe zum Fußball und zum Ball selbst. Wenn es einen Ball in der Nähe gab, bekam er die Augen eines Kindes, das ihn unbedingt berühren oder damit zum gegenüberliegenden Tor laufen wollte.
Dieser Amateur-Geist, der mit der taktischen Verantwortung und der Komplexität des Spiels kompatibel ist, kann Fußballer ihre eigenen Grenzen überschreiten lassen und verbindet die Spieler mit den Zuschauern. Diego Maradona war so ein Spieler.